119
Die weitreichenden Anforderungen der Religion müssen mit den makrokosmischen Bedürfnissen der kleinsten Gemeinschaft im Einklang stehen.
Iblis Ginjo,
Die Topographie der Menschheit
In den Wochen nach ihrer Rückkehr von einem zerstörten Leben in ein anderes war Serena Butler behutsam den Vorschlägen ihres Vaters aus dem Weg gegangen, dass sie ihre Rolle im Parlament der Liga wieder aufnehmen sollte. Vorläufig hielt sie sich lieber in der Stadt der Introspektion mit ihren stillen und friedlichen Gärten auf. Die Philosophiestudenten legten großen Wert auf ihre kontemplative Privatsphäre und ließen sie in Ruhe.
Ihre Ansichten über den Krieg, die Liga und das Leben insgesamt hatten sich auf dramatische Weise gewandelt, und sie brauchte Zeit, um sich über ihre neue Rolle im Universum klar zu werden und nach neuen Möglichkeiten zu suchen, wie sie wieder helfen konnte. Sie hatte das Gefühl, dass sie vielleicht noch viel mehr als bisher tun konnte ...
Die Geschichte von Serenas Gefangennahme, vom Tod ihres Kindes und der Rebellion auf der Erde hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Auf Drängen von Iblis Ginjo hatte man die konservierte Leiche des kleinen Manion in einem durchsichtigen Plaz-Sarkophag in Zimia aufgebahrt, als Denkmal für die Milliarden Opfer der Denkmaschinen.
Iblis hatte sich zum unermüdlichen Agitator entwickelt, der seit seiner Ankunft in der Hauptstadt kaum geschlafen hatte. Er verbrachte jede Stunde mit Delegierten, denen er in leidenschaftlichen Worten die Leiden der unfreien Menschen und die Untaten Omnius' und der grausamen Cymeks beschrieb. Er wollte, dass die Liga eine große Streitmacht aus Kriegsschiffen zusammenstellte, um die Menschen auf der Erde zu retten. Der geflohene Rebellenführer bemühte sich darum, von den Salusanern als Held anerkannt zu werden.
Als selbsternannter Sprecher für Serena schilderte Iblis aus erster Hand die Verhältnisse auf den Synchronisierten Welten und erzählte die schreckliche Geschichte, wie der Roboter Erasmus den unschuldigen Manion getötet hatte und wie Serena es daraufhin gewagt hatte, die Faust gegen die Denkmaschinen zu erheben. Durch ihr tapferes und selbstloses Aufbegehren gegen die grausamen Herren hatte sie eine Rebellion entfacht, die den Terra-Omnius handlungsunfähig gemacht hatte.
Iblis setzte sein Rednertalent ein und überzeugte viele Menschen von seiner Aufrichtigkeit. Er hatte eine öffentliche Kampagne im Sinn, die in leidenschaftlichen Angriffen gipfelte, die von Serena persönlich angeführt wurden. Sie war der perfekte Brennpunkt für eine Rebellion, die weitere Kreise zog. Doch Serena war es lieber, weiterhin in der Abgeschiedenheit zu leben, und wusste nichts von der großen Bewegung, die mit ihrem Namen in Verbindung gebracht wurde.
Iblis war gewillt, sich auch ohne ihre aktive Unterstützung für die Freiheit der Menschheit einzusetzen, auch wenn es bedeutete, dass er alle Entscheidungen selber treffen musste. Eine solche Gelegenheit durfte er nicht ungenutzt verstreichen lassen. Er spürte, wie sich die öffentliche Meinung in Zimia änderte und zu einer neuen Waffe in seiner Hand wurde. Selbst die Politiker der Liga waren nun bereit, loszuziehen und die heldenhaften Rebellen auf der Erde zu retten – aber vorläufig beschränkten sie sich darauf, endlose Diskussionen und Debatten im Parlament zu führen. Es war genauso, wie Serena geahnt hatte.
Als er sich nun auf Segundo Harkonnens Bitte unter vier Augen mit dem Offizier traf, fühlte sich Iblis im vollgestopften Raum des Armada-Hauptquartiers sehr unwohl. Allem Anschein nach war dieser Teil des Gebäudes früher ein Militärgefängnis gewesen, in dem man Verdächtige und Deserteure verhört hatte. Schmale rechteckige Fenster säumten den Raum. Xavier ging auf und ab und schirmte das wenige Tageslicht ab, das hereindrang.
»Erzählen Sie mir, wie Sie zum Leiter einer Gruppe menschlicher Arbeitskräfte wurden«, forderte der Offizier ihn auf. »Ähnlich wie Vorian Atreides haben Sie als privilegierter Trustee den Denkmaschinen gedient und Vorteile genossen, während andere Menschen leiden mussten.«
Iblis machte eine wegwerfende Handbewegung und tat, als hätte der Segundo einen Witz gemacht. »Ich habe hart gearbeitet, damit meine loyalen Arbeiter in den Genuss von Belohnungen und Privilegien kommen«, sagte er mit seiner volltönenden Stimme. »Wir alle haben davon profitiert.«
»Einige von uns halten Sie für einen Opportunisten und misstrauen Ihrem plötzlichen Engagement.«
Iblis lächelte und breitete die Hände aus. »Weder Vorian Atreides noch ich haben versucht, ein Geheimnis aus unserer Vergangenheit zu machen. Vergessen Sie nicht, wenn Sie Insiderinformationen haben wollen, brauchen Sie jemanden, der ein Insider war. Sie werden keine bessere Informationsquelle als uns beide finden. Auch Serena Butler konnte sich wertvolle Einblicke verschaffen.«
Er blieb ruhig. Immerhin hatte Iblis ein Verhör durch den Titanen Ajax überlebt, einen wesentlich furchteinflößenderen und grausameren Widersacher als Segundo Harkonnen. »Es wäre eine große Dummheit, wenn die Liga sich diese einmalige Gelegenheit entgehen ließe«, fügte er hinzu. »Wir verfügen über die Mittel, um den Kämpfern auf der Erde zu helfen.«
»Dazu ist es zu spät.« Xavier kam näher und sah ihn ernst an. »Sie haben die Revolte angezettelt und dann Ihre Anhänger im Stich gelassen.«
»Ich bin gekommen, um die Liga um Unterstützung zu bitten. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, wenn wir die Überlebenden retten wollen.«
Xaviers Miene war wie versteinert. »Es gibt keine Überlebenden mehr ... nirgendwo auf dem gesamten Planeten Erde. Niemand hat überlebt.«
Iblis war so verblüfft, dass er mit einer Antwort zögerte. »Wie ist das möglich? Bevor wir mit der Dream Voyager aufbrachen, habe ich die Verantwortung an einen kompetenten, loyalen Mann übergeben. Ich bin davon ausgegangen, dass er ...«
»Es reicht, Xavier«, sagte eine andere Stimme aus einem unsichtbaren Lautsprecher in der Wand. »Wir alle haben genug Blut und Schuld an den Händen. Wir sollten entscheiden, was wir als Nächstes tun wollen, statt zu versuchen, einen unserer wertvollsten Mitstreiter gegen uns aufzubringen.«
Xavier hatte vor der leeren Wand eine steife Haltung eingenommen. »Wie Sie wünschen, Viceroy.«
Die Wände des Verhörzimmers flimmerten und gaben schließlich den Blick auf einen geheimen Beobachtungsraum frei, in dem ein Dutzend Männer und Frauen saßen, als würden sie Gericht halten. Benommen erkannte Iblis in der Mitte der Gruppe den Viceroy und an der Seite Vorian Atreides, der eine zufrieden wirkende Miene aufgesetzt hatte.
Manion Butler erhob sich von seinem Sitz. »Iblis Ginjo, wir sind ein Sonderkomitee des Parlaments, das die schrecklichen Ereignisse auf der Erde untersuchen soll.«
Iblis konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Alles Leben auf der Erde soll ausgelöscht worden sein? Wie ist so etwas möglich?«
Xavier Harkonnen antwortete ihm mit ernster Stimme. »Unmittelbar nach dem Eintreffen Ihres Schiffes hat die Armada ihren schnellsten Kundschafter losgeschickt. Nach einigen Wochen ist der Pilot nun mit den erschütternden Neuigkeiten zurückgekehrt. Auf der Erde existieren nur noch Denkmaschinen. Sämtliche Rebellen sind tot. Jeder Sklave, jedes Kind, jeder Trustee. Wahrscheinlich war die Vernichtungsaktion längst abgeschlossen, als die Dream Voyager Salusa Secundus erreichte.«
Viceroy Butler aktivierte mehrere große Bildschirme in den Wänden, die Schreckensszenen zeigten, Berge von verstümmelten Leichen, marschierende Roboter und Cymeks, die Menschen zusammentrieben und reihenweise niedermähten. Die Bilder übertrafen sich gegenseitig in grausamen Details. »Die Erde, die Heimatwelt der Menschheit, ist nur noch ein gewaltiger Friedhof.«
»Zu spät«, murmelte Iblis erschüttert. »All die Menschen ...«
Das Gespräch verstummte, als der Lärm einer großen Menge ins Gebäude drang, die »Serena! Serena!« skandierte.
»Iblis Ginjo, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen meine Dankbarkeit ausdrücken soll, dass Sie und Ihr Freund mir meine Tochter zurückgebracht haben«, sagte Viceroy Butler. »Bedauerlicherweise war der Mann, dem Sie die Führung der Revolte übertragen haben, dieser Aufgabe nicht gewachsen.«
»Niemand hätte es schaffen können, Viceroy«, sagte Vorian Atreides ernst. »Weder Iblis noch ich. Es war nur eine Frage der Zeit.«
Segundo Harkonnen erwiderte wütend: »Wollen Sie damit sagen, es sei sinnlos, gegen Omnius zu kämpfen? Dass jede Revolte zum Scheitern verurteilt ist? Auf Giedi Primus haben wir das Gegenteil bewiesen ...«
»Ich war ebenfalls dort, Segundo. Erinnern Sie sich? Sie haben mein Schiff beschossen und schwer beschädigt.«
Xaviers braune Augen blitzten zornig. »Ja, ich erinnere mich, Sohn des Agamemnon.«
»Der Aufstand auf der Erde war ein großartiges Beispiel«, sagte Vor, »aber die Beteiligten waren nur Sklaven, die als Waffen kaum mehr als ihren Hass auf die Denkmaschinen hatten. Sie hatten nie eine wirkliche Chance.« Er wandte sich an die Mitglieder des Sonderkomitees. »Die Armada der Liga hingegen ist etwas ganz anderes.«
Iblis erkannte die Gelegenheit, seinen Standpunkt zu unterstreichen, und sagte mit voller Stimme: »Ja, schauen Sie sich an, wozu ein Mob untrainierter Sklaven imstande war. Dann stellen Sie sich vor, was wir mit einer organisierten militärischen Streitmacht erreichen könnten.« Draußen wurden die Stimmen der Demonstranten immer lauter. »Die Verluste an Menschenleben auf der Erde dürfen nicht ungerächt bleiben«, fuhr Iblis fort. »Der Tod des Enkelkindes von Viceroy Butler – Ihres eigenen Sohnes, Segundo Harkonnen – darf nicht ungesühnt bleiben!«
Vor konnte den Blick nicht von Xavier losreißen. Er versuchte in ihm den Mann zu sehen, der Serenas Herz gewonnen – und dann ihre Schwester geheiratet hatte. Ich hätte bis in alle Ewigkeit auf sie gewartet.
Schließlich konzentrierte er sich auf Iblis Ginjo. Der Rebellenführer war ihm nicht besonders sympathisch, weil ihm seine Motivation unklar geblieben war. Iblis schien von Serena geradezu besessen zu sein, aber es war keine Liebe. Trotzdem musste sich Vor seiner Einschätzung anschließen.
Iblis setzte seine Ansprache fort, als würde er nicht vor einem Tribunal, sondern vor einem Publikum stehen. »Die Ereignisse auf der Erde sind ein Rückschlag, mehr nicht. Wir können darüber hinauswachsen, wenn wir den Willen dazu aufbringen!«
Einige der Repräsentanten ließen sich von seiner Begeisterung mitreißen. Draußen wurde die Menge immer erregter, und die Sicherheitstruppen versuchten, über eine Lautsprecheranlage wieder Ordnung herzustellen.
Vor sah, wie Iblis von einem Gesicht ins nächste blickte und dann in die Ferne, als gäbe es dort etwas, das nur er erkennen konnte. Die Zukunft? Iblis gestikulierte, während er sprach. »Die Menschen der Erde wurden niedergemetzelt, weil ich sie dazu ermutigt habe, den Maschinen Widerstand zu leisten, aber ich empfinde deshalb keine persönliche Schuld. Ein Krieg muss irgendwo beginnen. Ihr Opfer hat uns die Tiefe des menschlichen Kampfgeistes demonstriert. Denken Sie an Serena Butler und ihr unschuldiges Baby, was sie erdulden musste. Und trotzdem hat sie überlebt.«
Xavier Harkonnens Gesicht belebte sich, aber der Offizier sagte nichts dazu.
Iblis lächelte und streckte die Hände aus. »Serena könnte eine bedeutende Rolle in der neuen Bewegung spielen, die die Maschinenherrschaft überwinden wird. Wenn sie nur ihr Potenzial erkennen würde.« Er sprach jetzt direkt zu Manion Butler, mit zunehmender Inbrunst. »Auch wenn andere es als Verdienst beanspruchen wollen, war es doch Serena, die den Funken für die große Revolte auf der Erde entzündete. Ihr Kind wurde ermordet, und sie erhob die Hand gegen die Denkmaschinen, sodass alle es sahen. Was für eine Frau! Sie ist ein Beispiel und Vorbild für die gesamte Menschheit.«
Iblis trat einen Schritt näher an die Mitglieder des Tribunals heran. »In der ganzen Liga werden die Menschen von ihrem Mut erfahren und ihre Schmerzen nachempfinden. Sie werden geschlossen für ihre Sache eintreten, in ihrem Namen, wenn man sie dazu auffordert. Sie werden sich in einem epischen Kampf um die Freiheit erheben, zu einem heiligen Kreuzzug ... einem Djihad. Hören Sie, wie die Menschen draußen nach ihr rufen?«
Das ist es, dachte Iblis. Jetzt hatte er die religiöse Verbindung hergestellt, die der Kogitor Eklo empfohlen hatte. Es spielte keine Rolle, welchem speziellen Glauben oder welcher Theologie sie folgten. Von überragender Bedeutung war allein die Leidenschaft, die nur von Eiferern aufgebracht wurde. Wenn die Bewegung allumfassend sein sollte, musste sie die Gefühle der Menschen ergreifen, sie mussten in den Kampf gezogen werden, ohne einen Gedanken an einen Misserfolg zu verschwenden, ohne sich um ihre persönliche Sicherheit zu sorgen.
Nach einer langen, eindringlichen Pause fügte er hinzu: »Ich habe längst begonnen, die Idee zu verbreiten. Meine Damen und Herren, wir stehen am Anfang von etwas, das viel größer als eine Revolte ist. Hier geht es um das, was die Seele der Menschheit von den seelenlosen Denkmaschinen unterscheidet. Mit Ihrer Hilfe könnte es zu einem überwältigenden Sieg werden, der von den Flügeln der menschlichen Leidenschaft getragen wird – und von der Hoffnung.«